In­itiator und maß­geb­licher Ge­stalter im Aufbau und der Wei­ter­ent­wicklung der Ina gGmbH

Zum Ge­denken an
Prof. Dr. Jürgen Zimmer

Jürgen Zimmer Fotograf: Partick Kunkel
© Pa­trick Kunkel

Prä­sident der INA gGmbH von 1996–2017

Nachruf

Im August 2019 wurde der fol­gende Nachruf auf der Web­seite der In­ter­na­tio­nalen Aka­demie Berlin gGmbH veröffentlicht. 

Am 21.08.2019 ist Pro­fessor Dr. Jürgen Zimmer im Alter von 81 Jahren an einem seiner wich­tigsten Wir­kungsorte der letzten Jahre in Chiang Mai, Thailand, einem Schlag­anfall er­legen. Sein Tod hat uns alle sehr ge­schockt. Er wurde am 28.08.2019 dort im Beisein seiner Fa­milie, seiner Frau Birzana, seiner Kindern und seiner selbst­ge­wählten er­wei­terten Fa­milie, den Kindern und Er­wach­senen der von ihm ge­grün­deten School for Life beigesetzt.

Jürgen Zimmer war eine au­ßer­ge­wöhn­liche Per­sön­lichkeit mit einer sehr be­wegten Biographie.

Nach seinem Studium der Psy­cho­logie war er in den 1960er Jahren zu­nächst wis­sen­schaft­licher Mit­ar­beiter im Max-Planck-In­stitut für Bil­dungs­for­schung bei den lei­tenden Pro­fes­soren Hellmut Becker und Shaul B. Ro­binsohn. Hier ent­wi­ckelte er mit ihnen Theorien einer Cur­ri­cu­lu­m­ent­wicklung für Bil­dungs­in­sti­tu­tionen, die Bildung als krea­tives und pro­duk­tives Lernen für die Lösung realer Le­bens­fragen ver­stand. Statt Bildung allein als re­pro­duktive An­eignung von in der er­wach­senen aka­de­misch ge­bil­deten Ge­ne­ration vor­han­denem Wissen zu ver­stehen, setzte er auf die in­no­vative Kraft der nach­wach­senden Ge­ne­ra­tionen. Ein Pa­ra­dig­men­wechsel in der Bil­dungs­for­schung! Kinder und Ju­gend­liche und auch ihre Eltern und Nachbarn wurden in dieser Sicht zu Sub­jekten ihrer ei­genen Bil­dungs­bio­gra­phien – nicht Ob­jekte, denen das ‚richtige‘ Wissen von aka­de­misch an­er­kannten Au­to­ri­täten ver­mittelt werden muss. Die kri­ti­schen Theorien der Frank­furter Schule – Adorno und Hork­heimer – zur Auf­ar­beitung des deut­schen Fa­schismus und die Be­frei­ungs­päd­agogik des bra­si­lia­ni­schen Päd­agogen und Phi­lo­sophen Paulo Freire – mit seiner Al­pha­be­ti­sie­rungs­kam­pagne für un­ter­drückte Landarbeiter*innen – waren we­sent­liche und an­trei­bende geistige und po­li­tische Trieb­federn für diesen Paradigmenwechsel. 

Ein Lehrer, Georg Picht, hatte be­reits 1964 dem deut­schen Bil­dungs­system die Bil­dungs­ka­ta­strophe at­tes­tiert. Nach we­nigen Jahren der Schock­starre be­wegte sich die Po­litik und berief 1966 den Deut­schen Bil­dungsrat, dem Vertreter*innen aus Po­litik, Ad­mi­nis­tration und Wis­sen­schaft an­ge­hörten, unter Ihnen auch Jürgen Zimmer als Ex­perte für den Ele­men­tar­be­reich. Dieser Bil­dungsrat kam u.a. zu dem Schluss, dass die frühe Bildung von aus­schlag­ge­bender Be­deutung für Bil­dungs­bio­gra­phien von Kindern und Ju­gend­lichen sei. Der Kin­der­garten geriet in den bil­dungs­po­li­ti­schen Fokus und wurde zu einem mit vielen Hoff­nungen und Er­war­tungen be­haf­teten Reformfeld.

Jürgen Zimmer er­griff die Chance, um seine Ideen einer subjekt- und le­bens­welt­ori­en­tierten Cur­ri­cu­lu­m­ent­wicklung auf diesen Bil­dungs­sektor an­zu­wenden. 1971 übernahm er die Leitung der neu ge­grün­deten Ar­beits­gruppe Vor­schul­er­ziehung im Deut­schen Ju­gend­in­stitut (DJI). 

Er und die Mitarbeiter*innen der AG Vor­schul­er­ziehung im DJI wurden so er­folg­reiche und weg­wei­sende Initiator*innen für eine grund­le­gende In­no­vation im Feld der früh­kind­lichen Er­ziehung Bildung und Be­treuung, die bis heute wirken. Kinder und ihre Fa­milien und auch ihre er­wei­terten Be­zugs­gruppen als Sub­jekte und aktive Gestalter*innen ihrer Le­bens­welten an­zu­er­kennen, war dabei lei­tendes Prinzip. Dass heute in dem in den 1980er und 1990er Jahren lang ver­han­delten Kinder- und Ju­gend­hil­fe­gesetz, SGB VIII, die Prin­zipien der Le­bens­welt­ori­en­tierung, der Par­ti­zi­pation, der In­te­gration und die Ver­ant­wortung der Po­litik zur För­derung einer kinder- und fa­mi­li­en­freund­lichen Umwelt de­fi­niert sind, ist nicht zu­letzt Er­gebnis dieses Engagements. 

In den 1980er Jahren ver­la­gerte Jürgen Zimmer sein Wirken auf die in­ter­na­tionale Arbeit. 1980 wurde er von der Freien Uni­ver­sität Berlin auf einen Lehr­stuhl für in­ter­kul­tu­relle Er­ziehung be­rufen. Dies er­öffnete ihm Mög­lich­keiten, Stu­di­en­reisen mit Stu­die­renden in andere Länder durch­zu­führen – zu­nächst führten diese in die Türkei als einem der wich­tigsten Zu­wan­de­rer­länder in Deutschland. Daraus ent­standen Kon­zepte und pra­xis­ori­en­tierte Ma­te­rialien für die Arbeit in Kitas und Schulen in Deutschland. Bald wurde Deutschland für Jürgen Zimmer zu lang­weilig. Es zog ihn nach Ni­ca­ragua, einem Land, das sich zu dieser Zeit von einer Dik­tatur zu be­freien ver­suchte. Er war hier In­itiator von bil­dungs­po­li­ti­schen Netz­werken und Po­li­tik­be­rater. Hier er­kannte er auch im be­son­deren Maße, dass Bildung immer auch eine Frage des Com­munity De­ve­lo­pment ist. 1983 wurde er zu­nächst Vi­ze­prä­sident, später Prä­sident der In­ter­na­tional Com­munity Edu­cation As­so­ciation (ICEA) und en­ga­gierte sich maß­geblich im Aufbau von Com­munity Schools and Centres in Deutschland und international. 

Jürgen Zimmer war seit Mitte der 1990er Jahre In­itiator und maß­geb­licher Ge­stalter im Aufbau und der Wei­ter­ent­wicklung der In­ter­na­tio­nalen Aka­demie Berlin für in­no­vative Pä­da­gogik, Psy­cho­logie und Öko­nomie (INA gGmbH). Seine Vision bei der Gründung der INA war, die in einer eher nach Dis­zi­plinen ver­säulten For­schung und Lehre einer Uni­ver­sität, eine Forschungs‑, Aus­bil­dungs- und Pra­xis­ent­wick­lungs­or­ga­ni­sation zu gründen, die dazu bei­trägt, glo­balen Themen und Her­aus­for­de­rungen mit in­no­va­tiven Kon­zepten zu be­gegnen. Er hat so maß­geblich Mög­lich­keiten ge­schaffen, dass Men­schen zu­sammen wirken konnten, die Vi­sionen zur Ent­wicklung eines de­mo­kra­ti­schen Bil­dungs­systems teilten und die in den uni­ver­si­tären Struk­turen dafür keinen Ort ge­funden hätten. Er war seit Gründung der In­ter­na­tio­nalen Aka­demie 1996 ihr Prä­sident bis 2017. 

In den 2000er Jahren ver­la­gerte er seine ak­tiven Tä­tig­keiten zu­nehmend nach Thailand und gründete dort die erste School for Life – eine Schule, die Kindern und Ju­gend­lichen, die in Thailand keinen oder kaum Zugang zu Bildung hatten, neue Mög­lich­keiten er­öffnete, sich zu bilden und an der Ent­wicklung ihrer Ge­sell­schaften aktiv mitzuwirken. 

Jürgen Zimmer hat sicher allen, die mit ihm zu­sammen ge­ar­beitet haben, sehr viele in­spi­rie­rende Im­pulse ge­geben und immer wieder auch Ir­ri­ta­tionen her­vor­ge­rufen. Ihn zeichnet aus, dass er kei­nerlei Scheu hatte, aktiv auf Men­schen zu­zu­gehen, die aus ihm und seiner ge­wach­senen Ge­mein­schaft un­be­kannten Mi­lieus stammen. Er hat so Men­schen zu­sam­men­ge­bracht, die sich ohne ihn nie be­gegnet wären. Das hat uns, die wir daran teil­hatten, wert­volle neue Er­fah­rungen er­öffnet. Es hat auch Dif­fe­renzen sichtbar ge­macht, die nicht immer über­brückbar waren, jedoch wichtig waren, um Po­si­tionen zu klären. 

Jürgen Zimmer war ein Mensch mit großen Vi­sionen. Sie klein zu ar­beiten in machbare Schritte unter den je ge­ge­benen Um­ständen, war nicht so seine Sache. Es ist ihm meist ge­lungen, dafür Men­schen zu ge­winnen, die die Mühen dieser Ebenen für ihn über­nommen haben. 

Mit Si­cherheit haben Jürgen Zimmer und alle seine vielen Mit­wir­kenden, Ge­ne­ra­tionen von Stu­die­renden, Kolleg*innen in Pro­jekten und Pro­grammen, Politiker*innen, die seinen und den Rat seiner Mit­wir­kenden ein­geholt haben, mit ihm strei­tende Kolleg*innen aus der aka­de­mi­schen Welt einen enormen Ein­fluss auf die Ent­wicklung einer de­mo­kra­ti­schen Bil­dungs­land­schaft gehabt. Ins­be­sondere gilt dies für die viel­fäl­tigen Ak­ti­vi­täten des In­stituts für den Si­tua­ti­ons­ansatz in der INA und vor allem auch für die vielen Kitas, die den von Jürgen Zimmer mit­be­grün­deten Si­tua­ti­ons­ansatz in ihrer Praxis ge­schärft und weiter ent­wi­ckelt haben. 

Dies alles wird über seinen Tod hinaus weiter leben und wirken. 

Jürgen Zimmer hin­ter­lässt seine Frau Birzana, fünf Kinder und Enkel*innen. 

Wir trauern mit ihnen. 

Dr. Christa Preissing, Prä­si­dentin der In­ter­na­tio­nalen Aka­demie Berlin (INA gGmbH), Dr. Doris Klap­penbach, Katrin Macha und Mat­thias Kracht (Vizepräsident*innen), Monika Lentz (Geschäftsführer*in), die Gesellschafter*innen und Mitarbeiter*innen der INA gGmbH